Die Fleisser und Ihr Werk

Akzeptanz und Wertschätzung in ihrer Heimatstadt

Auszüge aus dem gleichnamigen Vortrag von Manfred Schuhmann

Teil 1

„Ich habe schon lange vor dem Gedenkjahr durch die Lesungen einen näheren Bezug erhalten, Klaus Gültig, der von seiner Tante zum Nachlassverwalter bestimmt worden ist, von Kulturreisen des Kunstvereins näher gekannt, und vor zwei Jahren auch den anderen Neffen, Herrn Hermann Widman, bei dem gemeinsamen Besuch im Wiener Burgtheater der Inszenierung von den Salzburger Festspielen näher kennenge-lernt. Diese Salzburger Inszenierung, die die beiden Stücke „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ zu einem zusammengefasst und ihm den Namen „Ingolstadt“ gegeben hat. Es war für uns Ingolstädter schon etwas Besonderes, in Wien ständig an Plaka-ten mit der dicken Inschrift „Ingolstadt“ vorbeizugehen. Mit beiden Neffen war ich in diesem Frühjahr bei einer Aufführung des Stücks „Der starke Stamm“ in Baden-Württemberg. Bei dieser Vorbemerkung möchte ich mich, da beide Neffen anwesend sind, hier öffentlich bedanken, dass sie mir in der Vorbereitung zu diesem Vortrag wichtige Auskünfte auf meine Fragen gegeben haben“, beginnt Schuhmann seinen Vortrag. Auf den Rat von Klaus Gütig hin begab sich Schuhmann ins Archiv und forschte nach den Reaktionen der Ingolstädter Presse bezüglich der sogenannten Skandalaufführung „Pioniere in Ingolstadt“.

 

„Der offenbar wichtigste Grund für die ungeheure Aufregung war die Tatsache, dass die von Fleißer ursprünglich hinter der Bühne darzustellende Hingabe des Dienstmädchens Berta – ihre so bezeichnete Entjungferung – an den Pionier Korl sich so abspielt, dass die beiden in eine im Bühnenvordergrund platzierte Gerätekiste steigen…die dann eindeutig zu wackeln beginnt. (Im Burgtheater, wo in die Bühne mehrere Wasserflächen eingebaut waren, wurde sie so halb unter Wasser vollzogen…) Der stellvertreten-de Polizeidirektor Berlins – der früher als Pionier-Leutnant in Ingolstadt Dienst getan hatte, sah vor allem die Ehre der Pioniere geschädigt und drohte mit Verbot, falls nicht einige den Stand der Pioniere beleidigenden Passagen ge-strichen würden. Das wurde übrigens getan, und das Stück wurde unbean-standet noch 42 Mal aufgeführt. Aber das änderte nichts an dem „shitstorm“, der Ingolstadt erreichte, und den Oberbürgermeister Gruber zu einer feierlichen Protestnote an das Polizeipräsidium Berlin, den preußischen Innenminister und die Berliner Presse veranlasste.

 

„Gegen das gemeine Machwerk der Schriftstellerin Marieluise Fleißer „Die Pioniere in Ingolstadt“, wodurch Ingolstadt und seine Einwohnerschaft aufs schwerste beleidigt und gekränkt wird, erheben wir feierlich Protest. Ebenso protestieren wir gegen die weitere Aufführung dieses Schmähstückes.“

 

 

Ein Berliner Theaterkritiker hatte zuvor einen offenen Brief an den Ingolstädter Oberbürgermeister geschrieben:

„Sehr geehrter Herr, ein junges Mäd-chen ihrer Stadt, der die Kochschule nichts Interessantes bot, hat zu dichten begonnen…es ging um „Verspottung der Provinz.“ Ingolstadt als idiotisches Nest, Soldaten als Schweinehunde…
rufen Sie doch die Dichterin zurück. Verheiraten Sie das Mädel…binden sie ihre Hände, damit sie keinen Federstil mehr in die Hand nimmt…. übrigens erwägt man im Polizeipräsidium ein Verbot des Stückes. In der zensurlosen Gegenwart!…“

 

Beim Recherchieren dieses Skandals fiel mir auf, dass bei den vielen Erörterun-gen eigentlich nicht darauf eingegan-gen wird, dass genau zu dieser Zeit ein erbitterter innenpolitischer Streit zwischen der rechtskonservativen Opposition und der sozialdemokratisch geführten Reichsregierung mit dem Innenminister Severin in den Me-dien ausgetragen wurde. Da kam dieser Skandal gerade recht, um die Nicht-Existenz der Zensur zu beklagen, da das bestehende „Gesetz gegen Schmutz und Schund“ nach Meinung der Ingolstädter Zeitung „nur die dicksten Kloaken auskehre und die übrigen Verpestungen des deutschen Kunstlebens fröhlich geduldet werden…in der Ingolstädter Zeitung „Organ der Bayerischen Volkspartei“ ist als Kom-mentar zu lesen: Nicht weil wir dieses Stück – diesem Theaterskandal in Berlin irgendwelche Bedeutung zumessen, aber weil wir unser liebes, altes, bummeliges Ingolstadt lieb haben, wollen wir auch unsrerseits auf gut altbayerisch Stellung nehmen…dass das Stück künstlerisch keinen Schuss Pulver wert ist…aber diesem merkwürdige Kinde unserer Stadt scheint es eine, sagen wir ruhig, unnatürliche Freude zu machen, wenn es sein eigenes Nest beschmutzt…Wir Ingolstädter wollen gar nicht, dass man uns als Mustermenschen-Exemplare betrachtet. Wir sind allesamt Sünder. Aber wenn man unsere Mädchen und Frauen so hinstellt, wie es in diesem Stück geschieht, unsere Stadt als ein heuchlerisches Krähwinkel bespöttelt, das wäre uns zu stark von einem Karl Zuckmeyer, aber es ist geradezu unerhört von einem jungen Mädel, das noch dazu aus dieser Stadt kommt…wir haben selten eine Zusammenstellung von Ausdrücken gefunden, die eine gröblichere Herabsetzung und Beleidigung der gesamten Einwohnerschaft einer deutschen Stadt und einer ganzen Waffengattung der alten Armee darstellt.“

 

Der Donaubote – Organ für nationale und soziale Politik – Druck und Verlag, Dr. Ludwig Liebl, reagiert am 9. April:
Überschrift: „Ingolstadt wird in ganz Deutschland berühmt! Die Plakate „Fahrt nicht an Ingolstadt vorüber“ sind überflüssig. Die Folgen unserer moralischen Verluderung.“ Ein trauriger Fall höchster sittlicher Korruption… Jüdische Geilheit und Dirnentum beschmutzen bairisches und deutsches Gemüt… ein perverses und zotiges Stück… alles was heilig und anständig ist, wird herabgewürdigt in der wüsten Freude darüber, dass es ein blondes, heißblütiges deutsches Mädchen ist, das derartige Zoten zusammengeschmiert hat. Mit Freiheit der Kunst hat ein derartiger Mist überhaupt nichts mehr zu tun.

 

Ansonsten wird ein Artikel vom „Fränkischer Kurier“ abgedruckt: Dass die sozialdemokratische Presse mit geilem Be-hagen ein derartiges Schundstück aufnimmt…verwundert nicht…Alfred Kerr, anerkannter Theaterkritiker, sieht in der Fleißer „eine der stärksten Begabungen, die malt hier unerschrocken“…und erkennt „Gespräche zwischen Dienstmädchen und Soldaten, die in ihrer tastenden Sehnsucht, in ihrer schlagenden Kraft einzigartig sind“…wird als Jude diskreditiert. Weiter heißt es im Artikel: „Eine Scheidung der Geister tut not. Vor allem aber anlässlich dieses Falles die Erkenntnis, dass es mit unverstandener Toleranz unmöglich ist, der sittlichen Verrohung Einhalt zu gebieten. Hier ist eiserne Energie nötig, um diesen Augiasstall auszurotten. Der Kampf der Nationalsozialisten gegen die jüdisch-marxistische Volks-pest hat sich durch diesen Skandal neuerdings als zwingen-de Notwendigkeit erwiesen“….

 

Im Stadtrat wurde am 18. April diskutiert. Der SPD-Fraktionsvorsitzende will sich der Kritik des Oberbürgermeisters nicht anschließen: „Es hat niemand von uns Gelegenheit gehabt, das betreffende Stück selbst zu sehen oder auch nur zu lesen…der kommunistische Stadtrat Franz Haas meinte, dass es doch zweckmäßig sei, das Stück im hiesigen Stadttheater aufführen zu lassen. Die Leute sollten selbst urteilen können…“

 

Foto1: © Zentrum Stadtgeschichte Ingolstadt

Foto2 – © Zentrum Stadtgeschichte Ingolstadt/Rössle

 

Bildunterschrift: 

Manfred Schuhmann, langjähriges Mitglied des Ingolstädter Stadtrates, des Kulturausschusses und natürlich der Fleißer Gesellschaft, zögerte zunächst, als ihn die Kuratorin des Fleißer-Hauses, Doris Wittmann, bat, einen
Redebeitrag zum Fleißer-Jubiläumsjahr anzubieten. Dann aber machte er sich ans Werk und arbeitete einen Vortrag aus, der die Zuhörer zu überraschen wusste. 

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